Gunter Gebauer

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Der spielende Arbeitsmensch
Bernd Wannenmacher im Gespräch mit Gunter Gebauer (19.10.2006)

Auf den ersten Blick scheinen Sport und Spiel nicht viel gemein zu haben mit der Arbeitswelt. Zu einem ganz anderen Ergebnis kommt jedoch Gunter Gebauer: Der Philosoph und Sportsoziologe leitet das Projekt „Aufführung der Gesellschaft in Spielen“. fundiert sprach mit ihm über die neuen Zusammenhänge von Spiel und Arbeit, warum Sport nicht immer als Vorbild für die Berufswelt taugt und weshalb Japaner gerne ihrem Chef die Meinung sagen, wenn sie betrunken sind.

fundiert: Sie sind im Sonderforschungsbereich „Kultur des Performativen“ Leiter des Projektes „Die Aufführung der Gesellschaft in Spielen. Bewegungsbilder in Spiel, Arbeit und Bildmedien“. Wie kamen Sie auf die Idee zu diesem Projekt, und was versuchen Sie dabei zu erforschen?

Gebauer: Bei diesem Projekt geht es um den Austausch, den man seit einiger Zeit zwischen der Spiel- und Arbeitswelt beobachten kann. Das ist zwar eine alte Geschichte, die aber eine neue Seite erhalten hat, die uns interessiert. Die neue Seite besteht darin, dass sich die Spiel- und Arbeitswelten mischen – insbesondere in neuen Arbeitszusammenhängen. Wir denken da vor allem an kreative Bildschirmarbeiten innerhalb der Programm- und Softwareentwicklung, die in kleinen bis mittleren Unternehmen neuen Stils betrieben werden. Dort wird die ganze Arbeitsweise anders organisiert als in klassischen Betrieben. Diese kreative Arbeit ist natürlich auch Büroarbeit, zu der es schon soziologische Untersuchungen gibt, aber es gibt Unterschiede zu den klassischen Büroarbeiten. Die bestehen unter anderem darin, dass flache Hierarchien existieren und dass in ­diese Form der Arbeit eine ganze Menge Spielelemente eingebaut sind. Oftmals gehört zu einem Software­unternehmen beispielsweise, dass Kommunikationsräume bereitgestellt werden, meist ausgestattet mit einer Espresso-Maschine, Tischfußball oder einem Flipperautomaten. Oft spielen die Programmierer vor der eigentlichen Arbeit am Computer – leidenschaftlich gerne das so genannte Ballerspiel „Counterstrike“. Das wird aber nicht mit vollem Ernst gespielt, da der Unterhaltungscharakter im Vordergrund steht. Aber viele Softwareentwickler sitzen vor der eigentlichen Arbeit in einem großen Raum und tollen, vernetzt über Intranet, erstmal virtuell herum und betonen so auch den Unernst dieses Spiels.

fundiert: Als Ausgleich zur ernsten Arbeitswelt?

Gebauer: Es scheint als Ausgleich tatsächlich wichtig zu sein, vor allem bei Berufen, in denen die Mitarbeiter unter hohem Zeitdruck stehen. Gerade bei kleineren Unternehmen, die für ihre Kunden innerhalb von kürzester Zeit maßgeschneiderte Lösungen suchen müssen, bei denen das ganze Team zusammenkommt, sich die Aufgaben anhört und verteilt, um dann in höchster Eile diese Aufgaben zu bewältigen. Dabei entstehen neue Arbeitsformen wie das so genannte „Extreme-Programming“, das gewisse Affinitäten zu Extremsportarten wie Paragliding oder Basejumping aufweist. So wie beispielsweise ein Extremkletterer an nur noch zwei Fingern in der Felswand hängt, so scheinen diese Firmen – im metaphorischen Sinne – auch an ihren Aufträgen zu hängen. Die Arbeitswelt wird dadurch extremer, auch wenn immer mehr Spielelemente in die Arbeit Einzug gehalten haben. Sie dauert länger als der übliche Büroalltag, es gibt keine festen Arbeitszeiten, und die Arbeit wird von einer Gruppe gestaltet, die zusammen Lösungen entwickeln muss. Und genau da setzen zum einen unsere Beobachtungen an. Zum anderen betrachten wir auch neue Spielformen unter dem Gesichtspunkt des extremen Risikos.

fundiert: Wie gehen Sie dabei vor?

Gebauer: Wir sind von der Überlegung ausgegangen, dass sich in den neuen Spielformen, etwa beim Sport, in der Arbeitswelt und bei den Computerspielen, schon neuartige Entwicklungen in der Gesellschaft abzeichnen, die sich aber noch nicht in der Gesellschaft verfestigt haben – wie spielerisches Handeln oder das Handeln in einer virtuellen Welt. In Spielen wird vieles ausprobiert, simuliert und vorgefertigt. Spiele eigenen sich dafür hervorragend: Sie sind empfindlich für Neuigkeiten, und sie sind die sensible Spitze dieser Entwicklung.

fundiert: Geht das in die Richtung der Computerspiele, mit dem Teile des Lebens simuliert werden können.

Gebauer: Spiele simulieren ja häufig Entscheidungs-, Katastrophen- oder Aggressionssituationen. Also sehr existenzielle Situationen, die virtuell durchgespielt werden können. Als Spiel scheint das einen gewissen Lustgewinn zu bringen, weil kein Spieler an den Ernstfall denken muss. Aber es bleibt doch die Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen oder Durchsetzungsstrategien zu entwickeln und durchzuspielen.

fundiert: Vom Spiel ist es nur ein kleiner Schritt zum Sport: Kann man auch Verhaltensmuster aus dem Sport auf die Arbeit übertragen, beispielsweise den Teamgeist nach dem Motto: „Alle für einen, einer für alle“?

Gebauer: Ich bin bei direkten Vergleichen immer vorsichtig. Es geht nicht um Eins-zu-eins-Übertragungen, sondern eher um Analogien. Man kann aber durchaus ein Team von Softwareentwicklern mit einer Sportmannschaft vergleichen. Bei beiden wird für eine gewisse Zeit und für eine bestimmte Aufgabe ein Team zusammengestellt, und dieses Team muss auf Gedeih und Verderb mit der gestellten Aufgabe klarkommen. Nach unseren Beobachtungen werden dabei einzelne Spieler oder Mitarbeiter nicht einfach abgehängt, sondern man versucht, gemeinsam durchzukommen. Die Schwächen des einen werden durch die Stärken des anderen ausgeglichen.

fundiert: Kann man daraus ableiten, dass vor allem Mannschaftssportler auch im Berufsleben eine größere Teamfähigkeit besitzen?

Gebauer: Auch das muss man sehr vorsichtig einschätzen. Gerade der Mannschaftssport erzieht zum Teil sehr stark zum Egoismus beziehungsweise ist Mannschaftssport ein Spiel zwischen Egoismus und Mannschaftsinteresse. Nehmen wir eine Profifußballmannschaft: Da will jeder einzelne Spieler auch seinen Erfolg haben, vor allem auf dem höchsten Spielniveau. Ein Torwart, der kein Tor kassiert hat, kann als Held vom Platz gehen, während die Stürmer, die keine Tore geschossen haben, sich mit hängenden Köpfen verabschieden. Der Stürmer ist auch ständig im Zielkonflikt: Soll er selbst schießen und zum Held werden? Oder spielt er lieber zu einem frei stehenden Kollegen? Wenn er verschießt, ist er eine Niete, wenn er trifft, ist er der Held. Gerade im Spitzensport besteht ein ständiger Konflikt zwischen Egoismus und Kooperation. Zusätzlich befinden sich gerade Spitzensportler in einer ständigen Konkurrenzsituation untereinander. Bei Freizeitmannschaften kann dieses egoistische Verhalten übrigens noch stärker ausgeprägt sein.

fundiert: Wenn der Sport nicht als Vergleich taugt, was dann?

Gebauer: Man kann die Situation eher mit Kooperationsformen in der Industrie vergleichen, zum Beispiel der Automobilindustrie. Da sind alle Hersteller Konkurrenten, und trotzdem entschließen sich einige angesichts der Kosten, gemeinsam zu planen, zu konstruieren und zu entwickeln. Die Hersteller konstruieren gemeinsam ein Grundmodell und bleiben trotzdem die schärfsten Konkurrenten. Da treten klare Parallelen zum Sport auf. Denken Sie an die Tour de France, wenn sich einige Rennfahrer dazu entschließen, aus dem Feld auszureißen, sich für eine gemeinsame Flucht zusammenschließen, um dann kurz vor der Ziellinie wieder zu den schärfsten Konkurrenten zu werden. Der Sport liefert also gute Beispiele für Konkurrenz- und Kooperationssituationen für das Leben und die Wirtschaftswelt. Einfach übertragen lassen sie sich aber nicht.

fundiert: Welchen Stellenwert hat Arbeit für den Einzelnen? Definiert man sich durch seine Arbeit?

Gebauer: Da lohnt es sich, in der Philosophiegeschichte in eine Zeit zurückzugehen, in der Berufsarbeit zu einer wesentlichen Komponente der Persönlichkeit geworden ist. Folgt man beispielsweise Max Weber, dann spricht man von einer protestantischer Ethik, einer ethisch begründeten Berufsauffassung, die zu Beginn vor allem für einige protestantische Sekten das Grundmotiv war, um Lebensweisen auszuleben, die typisch geworden sind für die moderne Lebenswelt: asketisch, rational, systematisch und immer im so genannten Gehäuse eines Berufs. Während des 17. und 18. Jahrhunderts entwickelte sich die Berufsarbeit dadurch zu etwas Wichtigem. Weber ging damals schon davon aus, dass dies ein Grundmodell für eine moderne Lebenswelt werden kann – und damit hatte er sicherlich Recht. Die Bedeutung von Berufsarbeit seit dem 19. Jahrhundert ist für Länder wie Deutschland jedenfalls unbestritten. Die zweite Wurzel, die für die Moderne vielleicht noch wichtiger war, ist die Deutung der Arbeit durch den deutschen Idealismus. Eine Deutung, die man herleiten kann, wenn man weiß, dass Arbeit vor dem Idealismus keine besonders positive Bedeutung hatte. Dafür wurden eher Begriffe wie „Fron“, „Zwang“ oder „Last“ verwendet.

fundiert: Damals haben auch nicht alle Bevölkerungsschichten gearbeitet …

Gebauer: Die führenden Schichten sicherlich nicht. ­Arbeit war auch nicht hoch angesehen. In der Philosophie erhält Arbeit aber einen hohen Stellenwert mit ­Hegel. Dort findet man eine äußerst positive Darstellung von Arbeit, die aber in erster Linie nicht als handwerkliche Arbeit verstanden wird. Der Arbeitsbegriff wurde verwendet, um die Selbsterzeugung des Menschen auf Grund seiner Geistigkeit zu beschreiben. Der erste wichtige Schritt ist das Gewinnen von Selbstbewusstsein durch Arbeit – so sieht es beispielsweise auch der deutsche Philosoph Fichte. Es geht ganz konkret um die Auseinandersetzung mit der Alltäglichkeit der Arbeit und dass man sich gegen die Widrigkeiten der Welt durchsetzt. Das wird sofort wieder emphatisch verstanden als ein „Zu-sich-selbst-Kommen“ des Menschen. Arbeit erhält dann interessanterweise all die­jenigen Charakteristika, die davor Schiller dem Spiel gegeben hat.

fundiert: Frei nach Schillers Diktum „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“?

Gebauer: Stimmt. Schiller war der Erste, der das Spiel als wesentliches Merkmal des Menschen herausgestellt hat. Die Verquickung des Wesens des Menschen mit der Qualität des Menschen als „Homo ludens“, also des spielenden Menschen, ermöglicht die innere Freiheit und Kreativität des Menschen und eine deutliche Abkehr von der Entfremdung der Welt. Schiller diskutierte schon damals die Entfremdung durch Mechanisierung und die Monotonie der Arbeit. Der Arbeitsbegriff wurde als negativ gesehen und als Gegenbegriff zum Spiel entwickelt. Diese positive Bestimmung des Menschen und diese enorm wichtigen Wirkungen, die Schiller dem Spiel für das Wesen des Menschen zuschreibt, übernehmen Hegel und Fichte für die Arbeit. Dabei fällt auf, dass die gleichen Begriffe verwendet werden. Der nächste Schritt wäre Marx, der in seinen frühen Schriften genau diese positive Kennzeichnung der Arbeit wieder aufnimmt und sie ganz materialistisch deutet: Einerseits als Arbeit des Menschen an der Hervorbringung seiner selbst und andererseits auch als wirkliche, reproduktive Arbeit, die dem Überleben dient. An diesen Traditionen sieht man die Verknüpfung des menschlichen Wesens mit der Arbeit. Das dürfte wohl bis heute Auswirkungen haben: Wenn Arbeit nicht mehr in Berufsarbeit aufgeht, dann ändert sich das Wesen des Menschen.

fundiert: Berufsarbeit ist hierzulande aber in sehr ­großem Maße weggefallen. Wäre es dann nicht sinnvoll, Vorschläge aus der Politik aufzugreifen und beispielsweise das Ehrenamt aufzuwerten, wenn die Berufsarbeit wegfällt?

Gebauer: Dieser Vorschlag ist sicherlich gut gemeint, wenn es darum geht, dass man durch das Ehrenamt wieder in soziale Beziehungen eingegliedert wird. Das Ausbleiben dieser Beziehungen ist häufig ein Problem der Arbeitslosen, weil sie außerhalb von sozialen Kontexten leben – mit enormen Wirkungen auf ihre Identität und Selbsteinschätzung. In den letzten circa 200 Jahren hat sich vor allem der Aspekt des Geldverdienens dazugesellt, vor allem, das eigene Geld zu verdienen. Ich erinnere an die Diskussion innerhalb der Frauenbewegung über die Wichtigkeit, eigenes Geld zu verdienen. Diese Möglichkeit, für sich selbst zu sorgen, das eigene Überleben oder einen gewissen Lebensstandard zu sichern, kann man durch Arbeitslosigkeit nicht mehr erfahren. Für die Betroffenen heißt das also, dass sie immer auf der Ebene von Bedürftigkeit behandelt werden und nicht auf der Ebene von Berufsarbeit. Das Prekäre der derzeitigen Situation ist, dass der Hauptgrund, der zu einer Identitätsbildung führt, bei uns immer noch traditionell die Berufsarbeit ist. Diese Berufsarbeit steht aber leider nicht mehr in einem ausreichenden Maße zur Verfügung. Eine außerordentlich fatale Situation.

fundiert: Ein typisch deutsches Problem?

Gebauer: In Frankreich beispielsweise ist das noch schlimmer. Nach den französischen Vorstellungen ist die sozial anerkannte Berufsarbeit die einzige Möglichkeit einer Eingliederung in die Gesellschaft. Ohne Arbeit aber gliedert sich niemand in die Gesellschaft ein und erhält dadurch nicht einmal den Status des Individuums. Das macht vor allem die Jugendarbeitslosigkeit so gefährlich und erklärt zum Teil auch die Ausschreitungen der jüngsten Vergangenheit. So weit ist es bei uns zwar noch nicht, aber letzen Endes sind auch wir Erbe der protestantischen Berufsauffassung, die darin besteht, dass man Verpflichtungen erfüllt und daraus auch ein bestimmtes Ethos macht oder machen muss. Wichtig ist auch die Tatsache, dass man dafür auch noch Geld bekommt und dieses Geld wiederum für den Lebensunterhalt verwendet. Zusammengenommen bildet diese Konstellation einen Knoten, den wir nicht durch kommunale oder ehrenamtliche Arbeit lösen können. Diese Überzeugungen haben aber nicht nur die Beschäftigten – auch die betroffenen Arbeitslosen glauben leider daran. Und diesen Glauben kriegen sie nicht so schnell aus der Welt.

fundiert: Kommt dazu nicht auch noch das Problem, dass Arbeit entmenschlicht wurde, zum Beispiel durch die monotone Arbeit an Maschinen?

Gebauer: Das ist ein sehr altes Argument, das man schon bei Marx findet. Es gibt das ganzheitliche Produzieren seit geraumer Zeit kaum noch, und wenn doch, dann werden diese Verhältnisse gerne verklärt. Die Nationalsozialisten haben dem Motiv des Bauern auf dem Feld gehuldigt, während sie gleichzeitig das traditionelle Bauerntum fast abgeschafft haben, das Handwerk verklärt und gleichzeitig die Großindustrie gefördert haben. Es hat natürlich etwas für sich, wenn man den Handwerker sieht, der von Platon als Grundmodell des Schöpfers betrachtet wird. Dieses Grundmodell ist nach wie vor in den Köpfen, aber die Welt des Herstellens hat sich in den letzten 200 Jahren stark verändert: Sie ist aufgeteilt in arbeitsteilige Prozesse. Das bedeutet, dass wir immer nur in Teilprozessen leben, und ich denke, dass wir ganz gut damit leben. Wir kaufen uns schließlich auch eine CD, statt Hausmusik zu machen, wir spielen auch nicht mehr zu Hause Theater, sondern gehen ins Theater oder Kino. Wir profitieren also ständig von den Ergebnissen dieser Arbeitsteilung, die uns auch einen Zugang zu einer schier unendlichen Palette von Produkten ermöglichen, die wir sonst gar nicht hätten. Das Problem ist eher der Rückgang produktiver Berufe zugunsten anderer Berufe.

fundiert: An welche Berufe denken Sie dabei?

Gebauer: Nehmen sie beispielsweise die Dienstleistungsbranche oder Berufe wie das Programmieren oder das Bearbeiten von bestimmten, komplizierten Prozessen, die den Spezialisten voraussetzen. Das Problematische an vielen Dienstleistungsberufen ist, dass die Branche einen sehr großen Bereich der Gesellschaft einnimmt und der Dienstleister sich auch als Person vollständig in den Beruf einbringen muss. Ein Verkäufer, der gut verkaufen will, muss seine ganze Liebenswürdigkeit, seinen Witz, seinen Charme und seine Überzeugungskraft einbringen. Er muss gut reden und die Kunden einschätzen können – das heißt, er verwendet seine persönlichen und ureigenen Qualitäten, die er sonst beispielsweise für die Partnersuche oder das Führen einer glücklichen Beziehung verwendet, um damit Geld zu verdienen. Das ist nichts vollkommen Neues, aber es ist mittlerweile flächendeckend und wird an breitester Front verlangt. Persönliche, zwischenmenschliche Qualitäten dienen dann dem Gelderwerb. In gewisser Weise raubt dieser Zustand etwas am Menschen aus.

fundiert: Man verschießt also sein zwischenmenschliches Pulver während der Arbeit und kann abends oder in der Freizeit nicht mehr darauf zurückgreifen?

Gebauer: Oder Sie machen abends einfach so weiter, wie sie es gewohnt sind. Man kann dann nur noch schwer zwischen Berufs- und Privatmensch unterscheiden. Die Tugenden, die man als Berufsmensch hat, muss man sich zuerst im privaten Bereich erwerben, also die so genannten Soft Skills. Als Beispiel dafür fällt mir die „Tupperware-Party“ ein. Da werden in einem persönlichen Heim persönliche, freundschaftliche Verhältnisse genutzt, in denen man die Atmosphäre des Klatsches nutzt, um Waren zu verkaufen. Die Grundhaltung, private und persönliche Situationen für den Verkauf zu nutzen, halte ich im Grunde genommen für einen Wandel, der deutlich wichtiger ist als der Wandel der fortgeschrittenen Arbeitsteilung.

fundiert: Beim Stichwort Tupperware-Party fällt mir auch gleich die After-Work-Party ein, wo man schon früh mit dem Feiern beginnt, um am nächsten Tag wieder fit zu sein.

Gebauer: Feiern und Alkoholkonsum finden zwar nach der Arbeit, aber teilweise schon im Dienste der Arbeit statt, wie etwa in Japan. Vielleicht kommen wir auch mal dahin, dass eine Bürogemeinschaft am Freitag­abend zusammen mit dem Chef das Büro in Richtung Bar verlässt, alle sich betrinken und dem Chef dann einige Wahrheiten an den Kopf werfen.

fundiert: Trinken für die Firma?

Gebauer: In Japan wenigstens darf man das. Es wird vom Chef auch verziehen oder sogar funktional eingesetzt, um die Corporate Identity oder den Zusammenhalt im Büro zu stärken. Es wird also gezielt und mit einer gewissen Fröhlichkeit eingesetzt. Diese Mischung aus privatem Vergnügen, Fröhlichkeit und gezieltem Einsatz für den Beruf kann aber auch unangenehm werden, wenn man dazu verpflichtet werden soll. Denken Sie nur an Betriebs- oder Weihnachtsfeiern. Ich bin da eher traditionell und vermische das Berufs- und Privatleben nicht.

fundiert: In den letzten Jahren war nach der Dienstleistungsgesellschaft vor allem die Wissensgesellschaft im Gespräch. Kann diese Gesellschaftsform funktionieren, wenn viele noch von diesem Wissen ausgeschlossen sind?

Gebauer: Das ist eine schöne neue Welt, die aber nur zum Teil Realität ist. Ich bin zwar kein Ökonom, aber ich glaube, dass es durchaus richtig ist, wenn hohe Qualifikationen in den richtigen Bereichen und auf dem Arbeitsmarkt hoch geschätzt werden. Ob diese Qualifikationen etwas taugen, ob sie wirklich langfristig etwas bewirken können und den Realitätstest aushalten, bezweifle ich in vielen Fällen. Ich würde es eher so formulieren, dass die Eintrittskarte teurer geworden ist. Früher hat eine ordentliche Ausbildung ausgereicht, um einen qualifizierten Beruf zu bekommen. Heute benötigt man dafür häufig schon ein Studium, ohne dass eine Garantie vorhanden wäre, dass die Qualifikation für einen späteren Beruf ausreichen wird. Die Konkurrenz hat sich also nach oben hin verschoben, und die Bildungstitel sind wichtiger geworden. Das ist für viele die große Enttäuschung bei der so genannten Bildungsreform, auch Fahrstuhleffekt genannt: Die ausgebildeten Leute fahren nach oben und stellen fest, dass alle nach oben gefahren sind. Man hat sich also nicht weiter von anderen absetzen oder unterscheiden können.

fundiert: Der richtige Ausdruck wäre demnach Titel- und nicht Wissensgesellschaft?

Gebauer: Es geht in der Tat nicht nur um Wissen, sondern vor allem um Titel. Bestimmte Bildungstitel stehen hoch im Kurs, wie Betriebswirt oder Jurist. Aber jeder weiß, dass damit noch nicht alles gewonnen ist. Viel wichtiger sind da die so genannten Skills – also für bestimmte Jobs besondere Fähigkeiten zu haben. Es geht auch nicht nur um das Wissen, wie man Wissen gewinnt. Zum großen Teil werden eher Fähigkeiten und Fertigkeiten verlangt, um sich auf bestimmte Situationen einstellen oder diese meistern zu können, bestimmte Dinge erfassen zu können oder eine schnelle Auffassungsgabe und einen guten Sprachgebrauch zu entwickeln. Also Fähigkeiten, die darüber entscheiden, ob man im Beruf später Erfolg haben wird. Wissen alleine reicht da nicht, und ein Spezialwissen führt sogar oft in Sackgassen. Nehmen wir einen Raumfahrttechniker, der in die Arbeitslosigkeit gerät: Mit dem hohen Grad an Spezial­wissen kann er nur noch schwer vermittelt werden. Dann wird das Wissen zum Hindernis. Ein Problem, das auch viele Biologen und Chemiker betrifft. Dazu kommt, dass Wissen auch verlagert werden kann und nicht mehr örtlich gebunden ist. Große Kreditkartengesellschaften werden beispielsweise von Indien oder Indonesien aus betreut. Wissen ist also spielend leicht zu exportieren. Egal, ob es sich um Konstruktions- oder Programmieraufgaben dreht, es kann von überall aus gemacht werden. Davon hat eine einzelne Gesellschaft nicht unbedingt große Vorteile. Da geht es schlicht um die Frage, wo Wissen am billigsten ist.

fundiert: Die Globalisierung führt also unter Umständen zu Benachteiligung?

Gebauer: Man sollte die Globalisierung kritisch, aber nicht pessimistisch sehen. Man kann vielleicht bestimmte Wissensaufgaben verlagern. Aber dort, wo diese Aufgaben durch Menschen vermittelt werden müssen, und es nicht darum geht, den Kotflügel eines Autos irgendwo auf der Welt zu entwerfen, sondern Autos zu verkaufen, da spielen wiederum sozial vernetzte Berufe eine Rolle. Zum Glück sind nach wie vor viele Berufe in ein sozial abgesichertes Umfeld eingebettet, in dem langfristig geplant werden kann – ein Umfeld also, in dem es eine funktionierende Infrastruktur gibt. Man ist auf diese soziale Sicherheit angewiesen, und Sicherheit existiert nur an Orten, an denen es den Menschen relativ gut geht, die Verwaltung funktioniert und das öffentliche Leben nicht korrupt ist. Auch die Wissensgesellschaft funktioniert somit nur da sozial sicher und erfolgreich, wo sie mit anderen sozialen Aufgaben vernetzt ist.

fundiert: Das erinnert an eine IBM-Studie zur Tele-Heimarbeit. Dort hatte man festgestellt, dass zum Arbeiten ein soziales Netz und klare Strukturen sehr wichtig sind, die in der Heimarbeit aber offensichtlich nicht vorhanden waren.

Gebauer: Das hätte man leicht vorhersagen können – auch ohne aufwendige Studien. Die meisten brauchen für den Arbeitsbeginn ein so genanntes Schwellenritual, wie es die Ethnologen bezeichnen. Man muss eine Schwelle überschreiten, nach der ein anderer Abschnitt beginnt. Die Trennung von reiner Privat- und Arbeitshaltung muss auch jeder Wissenschaftler einhalten. Oder auch die Studenten, wenn sie ihre Hausarbeiten schreiben sollen und dafür lieber in die Bibliothek gehen. Ein Raum der Arbeit funktioniert selten mit Schlafanzug und Morgenkaffee. Da kann man nicht arbeiten, abgesehen von denjenigen, die vermutlich überhaupt kein Privatleben haben, bis zur Bettkante arbeiten, erschöpft einschlafen und am nächsten Morgen sofort weiterarbeiten. Für die ist das kein Problem, weil sie diese Schwelle nie überschritten haben. Andere müssen das aber tun.

fundiert: Vor allem fehlte vielen auch der soziale Kontakt bei der Telearbeit…

Gebauer: Die soziale Vernetzung ist in der Tat immens wichtig. Man kann im Gegenzug auch den häuslichen Kontext nicht rund um die Uhr ertragen, viele brauchen ein Arbeitsumfeld außerhalb der eigenen vier Wände.

fundiert: Viele strukturieren allerdings auch ihre Freizeit recht straff – ähnlich der Arbeitswelt. Sollten wir nicht die Kunst des Müßiggangs wieder erlernen?

Gebauer: Die Organisation der Freizeit ist ja nicht zwangsläufig damit gleichzusetzen, dass die Leute nicht abschalten können. Wer sich stundenlang in einem Cluburlaub animieren lässt, kann das auch als sehr freudvoll erleben. Aber ich glaube, dass Menschen mit einem ganz normalen Berufsalltag einen bestimmten beruflichen Habitus haben, wie etwa Bourdieu das nennt. Der besteht darin, dass man eine Zeitplanung betreibt und ein Vergehen der Zeit gar nicht ertragen kann, ohne sie zu planen. Das wird eher als Bedrohung empfunden. Dieser Habitus ist unser Eigen geworden, und er befähigt uns, mit Zeiten und Räumen umzugehen und damit auch mit uns selbst. Nichtstun ist für solch einen Habitus das Allerschlimmste, denn dann verliert das Leben jede Kontur.

fundiert: Auch aus einem schlechten Gewissen heraus?

Gebauer: Das kann einer der Gründe sein. Die meisten Menschen haben sich diesen Habitus fast schon zur zweiten Natur gemacht. Man verwirklicht sich selbst als tätiges, handelndes und soziales Wesen in geregelten Kontexten und muss sich räumlich und zeitlich in bestimmte Kontexte einbringen. Wenn man das unterlässt, langweilt man sich, die Zeit will nicht vergehen. Man verliert sich und seine Grenzen und hat hinterher das Gefühl, man hätte überhaupt nichts gemacht und dadurch auch nichts gewonnen. Die Kunst wäre also, durch Nichtstun etwas für sich zu gewinnen. Wir sind es aber gewohnt, das Leben zu strukturieren und uns als sozial handelnde Menschen zu erleben. Davon Abstand zu nehmen und daran Gefallen zu finden, ist sicher ungeheuer schwer. Wenn man sich allerdings die zahlreichen Besucher von Cafés, Kinos und Konzerten ansieht, dann sieht man schon, dass viele zum Glück auch abschalten können.

fundiert: Der Umgang mit der Zeit scheint trotzdem ein Problem zu sein. Der Boom von Büchern zum Thema „Zeitmanagement“ deutet das jedenfalls an.

Gebauer: Diese Literatur gibt ja vor allem Leuten Antworten, die ihren Umgang mit der Zeit als problematisch empfinden oder zum Teil Probleme nicht von Scheinproblemen unterscheiden können. Aber trotzdem ist nicht das schlechte Gewissen der Antrieb für ein Zeitmanagement. Die meisten Leute wissen durchaus, etwas mit ihrer Zeit anzufangen. Der Wunsch nach Strukturierung von Zeit entsteht ja erst dadurch, dass man gelernt hat, Zeit zu strukturieren, Aufgaben zu erledigen, etwas mit sich anzufangen und sich auf diese Weise zu spüren. Man kann das Ganze also auch relativ positiv sehen. Das gerade von Leuten mit künstlerischem Habitus gepflegte „Vor-sich-Hindösen“ und die meditative Distanz ist in der Menschheitsgeschichte immer nur einer winzig kleinen Gruppe vorbehalten gewesen. Ich gehöre leider nicht dazu.

fundiert: Platons Idee der Muße als Grundvoraussetzung der Arbeit ist also auch eher ein verklärter Blick auf die reale Arbeitswelt?

Gebauer: Das Ideal der Muße gehört schon lange der Vergangenheit an. Vielleicht gibt es noch vereinzelt Minderheiten, die dieses Ideal erfüllen können. Aber das ist an eine Lebensweise gebunden, die sehr selbstbestimmt ist und die oft nicht unter der Notwendigkeit steht, mit Berufsarbeit sein Leben zu bestreiten, sondern der „Leisure-Class“ anzugehören. Heute gibt es das kaum noch. Auch die hohen Ränge der Gesellschaft müssen heute arbeiten, vielleicht noch härter als andere. Es gibt heute kaum mehr Modelle für Muße. Wir haben nicht mal mehr das Modell des Intellektuellen, weil die ihre Zeit in Talkshows verbringen oder ihre neuesten Publikationen anpreisen müssen. Da sehe ich gar keine Muße mehr. Auch bildende Künstler sitzen nicht mehr in ihrem Atelier, rauchen vor dem Malen einen Joint und betrachten die Welt. Sie sind oft besonders fleißig, weil sie ein möglichst gigantisches Lebenswerk schon mit 30 Jahren hinter sich bringen wollen. Bei den Literaten zählt die Literaturliste und wie hoch die letzte Auflage war. Gerade die Vertreter der traditionellen Muße-Klasse fallen als Vorbilder also immer mehr aus.

fundiert: Ohne Fleiß also kein Preis?

Gebauer: Stimmt. Heute verteilt sich auch alles anders. Das Leben insgesamt scheint viel rastloser und die Belastungen höher zu sein, weil auch die Anforderungen höher sind – und das gilt für alle Gruppen der Gesellschaft. Diesen Druck haben viele, stärker als bisher, schon verinnerlicht und zu einem Habitus gemacht, der auch in der Freizeit immer mehr Einzug hält. Extremsport ist für den selbst auferlegten Druck auch während der Freizeit ein gutes Beispiel, auch wenn manche Ausdauersportler eher schon ein gewisses Suchtverhalten an den Tag legen. Sie verlassen das so genannte „gemeinsame, universale Tischgespräch“. Ein Ausdruck von Kant, der sich auf die Vorstellung bezieht, dass Menschen eigentlich lieber miteinander sprechen, sich etwas erzählen, ihre Neugier stillen und dadurch ihr Leben gegenseitig bereichern und verschönern, statt sich zurückzuziehen. Auch bei einigen Workaholics hat man, ähnlich wie bei Extremsportlern, das Gefühl, dass sie dieses Tischgespräch schon längst verlassen haben. Eigentlich läuft dann auch etwas schief, weil sie sich selbst schädigen. Schön wäre eine Freizeitgestaltung wie bei unseren schönen privaten Feiern: Die Besten fangen gemeinsam in der Küche beim universalen Tischgespräch an – und enden auch da.

fundiert: Vielen Dank für das Gespräch.

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